Die Zeit des sich kräftig entwickelnden Deutschen Bürgertums hat nicht nur einen Aufschwung in der Machtentfaltung unseres Volkes hervorgebracht, sondern ganz besonders die Schaffung einer Kunstrichtung zum Gefolge, wie sie großartiger und, worauf besonderes Gewicht zu legen ist, volkstümlicher vorher nicht in unserem Lande entstanden war.
Es ist in Wahrheit die Frühlingszeit christlicher deutscher Kunst, an deren Entfaltung und Ausbildung das ganze Volk beteiligt ist. Nicht mehr ausschließlich die Klöster sind es, welche jene Gottesgabe üben und pflegen, wie zur Zeit des romanischen Stils: es ist das Bürgertum in Gemeinschaft mit der Kirche, welches Gotteshäuser und Heimstätten schmückt und seinen begeisterten Glauben durch Erzeugung der herrlichsten Werke zum Ausdruck bringt.
Religion und Kunst sind stets Schwestern gewesen und je mehr von der ersteren das Volk durch-drungen war, desto höher die Leistungen der letzteren. Niemals hat sich das mehr bewahrheitet als zur Zeit der Gotik.
Der gotische Dom mit seinen himmelanstrebenden Türmen konnte nicht hoch genug aufgeführt werden, konnte nicht genug Kunstschöpfungen in sich bergen, alles wollte dazu beitragen, das Haus Gottes auf das reichste auszuschmücken, es so zu gestalten, daß jedes Gemüt ergriffen werden, daß man es in Wahrheit zu einen heiligen Ort bezeichnen mußte. Was Wunder, wenn in einer solchen Zeit die Kunst einen hohen Aufschwung nimmt und durchaus volkstümlich wird; ist aber das der Fall, dann bleibt sie nicht mehr an dem Gotteshaus allein in Anwendung, dann zieht sie auch in die bürgerliche Wohnstätte, um auch dort ihre Blüten zu treiben und sowohl in der Kleinkunst als auch in der Architektur Früchte zu zeitigen, die nicht minder wie die Kirchenbauten unsere Bewunderung herausfordern.
In Hildesheim wandte sich in dieser Periode die Architektur an dem Wohnhaus mit wenigen kaum nennenswerten Ausnahmen dem Holzbau mit alleiniger Verwendung des Eichenholzes zu und bringt denselben zu einer solchen Vollendung und so in Aufnahme, daß selbst späteren Kunstrichtungen die Verdrängung dieser Bauweise nicht mehr gelingt. Köstlich muß der Anblick der Holzbauten jener Zeit in ihrer Jugendfrische gewesen sein und eine reiche Kunstentfaltung hier geherrscht haben, wenn, wie wir gleich an dem Trinitatishospital nachweisen werden, die wenigen uns über-kommenden ältesten Vertreter jener Epoche gleich zu den hervorragendsten Repräsentanten der gesamten Holzbaukunst gezählt werden müssen. Eine bereits entwickelte Kunst tritt uns entgegen, deren Anfänge auf weit frühere Zeiten zu verlegen sind.
Das Holzhaus der gotischen Periode, welche sich in Hildesheim bis in das 16. Jahrhundert erhalten hat, zeigt in seiner älteren Form im Allgemeinen niedrige, oft kaum 2 m hohe weit auskragende Balken durch schräge, den Druck auf die Ständer übermittelnden Kopfbänder unterstützt werden, so daß also die Zahl der Balken und die der Kopfbänder und Ständer übereinstimmt.
Nach oben sind die Fachwerksbauten unserer Stadt fast immer durch ein Walmdach in horizontaler Linie parallel zur Straßenflucht abgeschlossen, wie es in den Nachbarstädten Goslar, Braunschweig, Halberstadt usw. auch der Fall ist; selten, und dann zwar meist nur an Eckhäusern, wird das Walmdach durch einen steil aufsteigenden Giebel ersetzt. Das Auskragen der Stockwerke finden nicht unmittelbar über dem Erdgeschoß statt, sondern es erhebt sich über diesem erst ein schlichtes, nicht vorspringendes Zwischengeschoß von oft geringer Höhe, das aber über der Flur wegfällt; die Fenster des Zwischengeschosses erleiden durch die Haustür keine Unterbrechung, die über jener befindlichen dienen vielmehr als Oberlichter zur Erhellung des Flures, welche mithin bis an die auskragenden Stockwerke reicht. Die sehr gedrückten Räume des Zwischengeschosses, welche ähnlich den Entresols (Zwischen-, Halbgeschoss) unserer modernen Bauten, wahrscheinlich die Vorratsräume und die Kammern für das Dienstpersonal enthielten, öffnen sich nach der Flur durch eine Fensterreihe.
Die meisten mehr breiten als hohen kleinen Fenster waren in der Regel zum Seitwärtsschieben eingerichtet, und ohne weiteren Schmuck; wurden Profile unter den Fenstern angebracht, so waren es nur schmale gekehlte Latten, die man mit eisernen Nägeln auf die Ständer nagelte. Auch die Türen, oben durch Spitz- und Kielbogen abgeschlossen, waren einfach gehalten; Rundleisten mit Hohlkehlen abwechselnd bildeten die Profile. Zu beiden Seiten der Spitzbogen waren nicht selten Rosetten oder Wappen flach in die sonst meist ganz schlicht gehaltenen Ständer eingeschnitten; das zwischen Riegel und Streben befindliche Ziegelmauerwerk zeigt geometrische Muster. Größeren Wert legte man auf die Ausbildung der Setzschwellen und der darunter liegenden Balkenköpfe, Füllbretter und Kopfbänder, besonders letzteren wurde viel Aufmerksamkeit geschenkt, sie erhielten derbe, kräftige Profile; oft sogar wurden ganze auf Konsolen stehende Figuren aus ihnen herausgeschnitten und auch wohl bemalt. Zwischen den Kopfbändern befestigte man schräge Schutzbretter, welche den Übergang der einzelnen Stockwerke zu vermitteln hatten, und schmückte sie entweder mit Malerei oder mit flach ausgestochenen Rankenwerk. Die Setzschwellen oder Schwellbalken bedeckte man mit Schnitzereien der mannigfachsten Art, bald wählte man hierzu Wappen, bald Laubstäbe oder andere Ornamente, auch ganze Sprüche schnitt man ihnen zuweilen ein. Die Angabe der Jahreszahl, in welchem das Gebäude entstanden, eine Sitte, die im 16. Und 17. Jahrhundert allgemein verbreitet ist, findet sich nicht allzu häufig.
Textquelle: K. Lachner: Die Holzarchitektur Hildesheims; Verlag F. Borgmeyer; Hildesheim 1882; Seite 17f